9 Was ist deine Behinderung?

Ich möchte noch einmal auf das Thema oder die Frage der Behinderung zurückkommen… denn es lohnt sich - uns selbst zu fragen, wer oder wen wir eigentlich als behindert sehen?

Schaue ich mir mein persönliches Umfeld an, dann sehe ich viele Menschen, die meiner Meinung nach eine Behinderung haben. Diese Betrachtungsweise - keineswegs eine Bewertung - mag nicht mit dem gängigen Verständnis von Behinderung konform gehen; ich denke zum Beispiel an eine alleinerziehende Mutter, die sich mit mehreren Jobs über Wasser hält, oder an einen Manager, der aufgrund von Einsamkeit komplett seiner Arbeit verfallen ist und aus diesem Sog nicht mehr rauskommt (häufig als Workaholic bezeichnet). Es könnte gleichermaßen eine Frau sein, die ihrer Familie gegenüber nicht Nein sagen kann und sich ständig für diese aufopfert… ein Mann, der in kurzer Zeit gleich drei nahestehende Personen verloren, oder ein junger Vater, der eine Krebsdiagnose zu verarbeiten hat. Sind diese Menschen nicht, wenn auch auf andersartige Weise ebenso be-hindert?

Halte ich mir all die Belastungen von diesen (beispielhaften) Personen vor Augen, dann hat es unter Umständen ein Mensch mit einer körperlichen Behinderung, mit der er vielleicht schon sein ganzes Leben umzugehen hatte, leichter. Er ist damit aufgewachsen, die Beeinträchtigung gehört somit von Anfang an zu ihm und ist ein Teil seiner/ihrer Person. Menschen mit einer (angeborenen) Behinderung sind es gewohnt, mit ihren Einschränkungen zu leben, Hindernisse zu überwinden. Die kontinuierliche Auseinandersetzung mit ihnen ist in diesem Fall „natürlich“ gegeben.

So scheint es mir absurd, nur bestimmten Menschen eine Behinderung zuzuschreiben und sie durch eine entsprechende Kategorisierung folglich auch noch von anderen abzugrenzen. Muten wir uns damit nicht selbst ein Leben zu, das frei von jeglichen Lastern oder sogar Be-hinderungen ist? Sind oder werden wir denn nicht alle in irgendeiner Weise, lang- oder kurzfristig, einmal be-hindert? Ein schweres Schicksal, wie eine Krankheit oder ein Unfall, kann uns jederzeit treffen; es reicht allerdings schon das Zusammentreffen von mehreren vermeintlich kleinen, ungünstigen Veränderungen, die unsere Lebenssituation erschweren.

Wenn wir das Thema Behinderung aus diesem Blickwinkel betrachten, so erweitert sich das Feld oder der Personenkreis, den wir als beeinträchtigt ansehen. Im Grunde könnte man sogar alle Menschen mit ihren verschiedenen Lebensvoraussetzungen und Herausforderungen einbeziehen. Mit diesem veränderten Begriffsverständnis von Behinderung würde sich auch jener der Inklusion ändern. Indem wir jeden Menschen in gewisser Weise als beeinträchtigt sehen, würden alle gemeinsam eine große Gruppe bilden, in der jede/r irgendwie unterschiedlich ist.

Nehmen Sie jedenfalls immer wieder mal ihre persönliche Situation oder auch die ihrer Mitmenschen in den Blick – Sie werden erkennen, dass sich bei jeder/m von uns ein mehr oder weniger stark ausgeprägtes Handicap finden lässt.

Rückblickend auf unser bisheriges Leben können wir vielleicht feststellen, wie schwer wir uns mit der ein oder anderen belastenden Situation getan haben. Menschen mit einer Behinderung werden möglicherweise nie mit einer solchen fertig, dies ist aber auch normal für sie. Demzufolge entwickeln sie Kompetenzen, die sie gegenüber schwierigen Lebensumständen wappnen, und als Person stark machen. Die Fähigkeit zur Resilienz ist von großer Bedeutung. Wir hingegen, die vermeintlich keine Behinderung, bemitleiden zu oft diese Menschen, weil sie uns hilflos erscheinen. Tatsächlich trifft dies nur bei wenigen Menschen zu. Einige von ihnen haben sich von Geburt an mit persönlichen Mängeln auseinanderzusetzen, wodurch sie Fähigkeiten entwickeln, die sie vor allem mental stark werden lässt. Manch unangenehme Umstände mögen Menschen mit einer Beeinträchtigung daher leichter bewältigen als andere. Situationen, in denen eine/r von uns vielleicht verzagen würde, nehmen jene als eine alltägliche Gegebenheit an. Wir könn(t)en uns viele gute Eigenschaften von Menschen mit einer Behinderung abschauen. 

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