So wie wir „normale“ Menschen uns vorzugsweise unter gleichgesinnten Personen aufhalten, verbleiben auch Menschen mit Behinderung häufig lieber in ihrer Peer-Group. Dies mag verschiedene Gründe haben. Dort können sie sich mit anderen identifizieren und werden (ohne sich großartig erklären zu müssen) angenommen, wie sie sind. Oft ist es ein Gefühl von Scham, was sie dazu bewegt oder besser gesagt nicht dazu bewegt, sich mit anderen Menschen vor allem nicht im öffentlichen Raum zu treffen.
In meinem Leben gab es ebenfalls eine Phase, in der ich (als Jugendliche) beispielsweise nicht ins Kino ging, allgemein auf Veranstaltungen in der Öffentlichkeit verzichtete. Ich wollte mich nicht dem Stress aussetzen, der mir Begegnungen mit „fremden“ Menschen bereitete. Selbst mit Freundinnen an meiner Seite hätten mich die Blicke anderer Personen zu sehr belastet und auch nachträglich beschäftigt. Dies mag für Sie - verständlicherweise - unverständlich sein; vielleicht ist es für Sie nachvollziehbarer, wenn Sie sich in einem auffälligen Kostüm vorstellen und deswegen von Passant*innen auf der Straße angestarrt werden. Im Grunde wäre das eine verständliche Reaktion, bloß würden Sie diese Kleidung freiwillig und nicht an jedem Tag tragen.
Im Laufe der Zeit, insbesondere in den letzten Jahren, habe ich bewusst versucht Menschen aufzusuchen, die ein ähnliches Schicksal, also eine offensichtliche Behinderung, wie ich haben. Im Austausch mit ihnen war ich schließlich erstaunt, dass eigentlich alle Personen meine Erfahrungen und Empfindungen teilten. Auch sie kommen sich „draußen“ in der Gesellschaft oft unwohl, beobachtet vor und bevorzugen es, in ihren vertrauten vier Wänden zu bleiben.
Für die meisten ist es immer noch eine Herausforderung, tatsächlich hinauszugehen, am öffentlichen Leben teilzunehmen. Lieber verbleiben sie zuhause, obwohl sie sich natürlich auch mal neue Begegnungen wünschen. Ein Freund (mit einer erworbenen Querschnittslähmung) berichtete welch große Überwindung es ihm kostet, zu einer Veranstaltung zu gehen. Trotz seiner Mobilität kostet ihm die Teilnahme viel Kraft. Manches Mal blieb er vor der Tür zu der Veranstaltung stehen und fuhr, ohne auch nur kurz an dieser partizipiert zu haben, wieder nach Hause.
Scham ist eine natürliche (Schutz-)Reaktion, die Menschen zum Rückzug veranlasst. Bevor ihnen eine Art Kränkung widerfährt, bevorzugen sie ihre Freizeit in ihren gewohnten Räumlichkeiten, einen Art Schutzraum, zu verbringen. Damit verwehren sie sich selbst den Zugang zu möglicherweise erfreulichen Veranstaltungen und Kontakten. Ich persönlich kann dies vollkommen nachempfinden, allerdings stimmt es mich auch traurig. Denn Isolation bewirkt früher oder später auch das Gefühl von Einsamkeit.
Menschen, egal ob mit oder ohne Behinderung, können sich einsam fühlen. Was Menschen mit Behinderung anbelangt, müsste dies nicht unbedingt der Fall sein. Denn wie soeben beschrieben, liegt es nicht an ihnen, sondern vielmehr an der Tatsache, dass sich jene Personengruppe in der Gesellschaft schlecht fühlt und sich deshalb selbst (zum eigenen Schutz) von anderen abgrenzt. Die Einsamkeit ist also nicht durch die Person selbst, sondern die Gesellschaft bedingt.
Andererseits empfinden auch Menschen ohne Behinderung Scham, wenn sie zum Beispiel - bleiben wir beim Thema - einen Menschen mit Handicap antreffen. Aus Unbeholfenheit reagieren sie womöglich wenig wertschätzend und schämen sich für ihr Verhalten. Im schlimmsten Fall meiden nicht nur diese, sondern beide „Parteien“ in Zukunft einen derartigen Kontakt.
Eine Entwicklung hin zur Inklusion wird dadurch klar gehemmt. Beide Seiten müssten ihr Schamgefühl, ihre Angst vor dem Fremden überwinden, und sich dem Anderen öffnen. Beide müssten den Mut aufbringen, einander zu begegnen und möglicherweise den ein oder anderen Fehler, was ihr Verhalten anbelangt, in Kauf nehmen; längerfristig können sie allerdings wichtige emotionale wie soziale Kompetenzen, z.B. Empathie weiterentwickeln.
Ich habe erfreulicherweise einige Personen kennengelernt, die aus unterschiedlichen Gründen diese mutige Entscheidung getroffen haben. Den Mut, Beziehungen zu Menschen mit einer Behinderung einzugehen, sei es ein flüchtiges Gespräch im Bus, die Teilnahme an einer Elterninitiative oder Einladung zu einem Kindergeburtstag von einem Kind mit einer Behinderung.
Die meisten befürwortenden Stimmen, die ich bisher gehört habe, kommen von Menschen, die bereits positive Erfahrungen hinsichtlich Inklusion gemacht haben – von Eltern, die ihr Kind in einem inklusiven Kindergarten angemeldet haben, den Kindern selbst oder Lehrer*innen, die (wenn auch ursprünglich aufgezwungen) eine/n Schüler*in mit einer Behinderung in ihrer Klasse aufgenommen haben.
Negative Stimmungsbilder habe ich lediglich von Menschen vernommen, die Angst vor der Begegnung mit beispielsweise beeinträchtigten Personen hatten, oder von jenen, die aufgrund mangelhaft angepasster Rahmenbedingungen bzw. inklusiver Strukturen schlechte Erfahrungen machen mussten.
Zum Thema Scham und Verletzlichkeit hat Brené Brown ein sehr empfehlenswertes Buch "The Power of Vulnerability" (Die Kraft der Verletzlichkeit) geschrieben. In einem TED Talk spricht sie ebenso über das Thema:
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