11 Vom Menschen aus denken

Kommen wir nochmal auf das Thema Barrierefreiheit zurück. Seit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention sollte diese ein zentrales Anliegen der Politik und nach mittlerweile über 14 Jahren flächendeckend gewährleistet sein; ist es aber nicht. Wirft man nämlich einen Blick zum nächstgelegenen Aufgang einer Kirche, Tabaktrafik oder eines Busses, ist schnell ersichtlich, dass Menschen mit Behinderung an vielen öffentlichen Plätzen der Eingang verwehrt wird. Natürlich kann man auch hier behaupten, ist dies nicht beabsichtigt. Solange Menschen nicht selbst betroffen sind oder einen beeinträchtigten Angehörigen begleitet, fällt es einem/r ja auch nicht unbedingt auf. Sollte man dann aber nicht trotzdem danach streben, die Teilhabe aller Menschen am Gemeinschaftsleben sicherzustellen?

Als ich eine Zeit lang Krücken hatte – man möchte meinen, dass gerade die Fortbewegung mit Hilfsmitteln keine Beeinträchtigung im Alltag darstellt – wurde mir bewusst, wie es Menschen ergeht, die nur in geringem Ausmaß (wie ich) körperlich eingeschränkt sind. Ich selbst konnte mich mit den Gehstützen noch recht geschickt über so manches Hindernis behelfen, doch eine andere Person hätte dies unter Umständen nicht geschafft. In Skandinavien würde es mir wohl anders ergehen, wo in den meisten Ländern auf politischer Ebene eine hundertprozentige Barrierefreiheit angestrebt und zum Großteil auch schon realisiert wurde. 

Jedes Mal, wenn ich einen öffentlichen Ort betrete, der (ausschließlich) einen Treppenzugang aufweist, zeichnet sich in in meinem Kopf ein Bild von einem Menschen ab, der oder die hilflos am unteren Ende steht bzw. (im Rollstuhl) sitzt und eigentlich das gleiche Recht auf Teilhabe hat wie jede/r andere gesunde Mensch auch. Ich finde es eine Zumutung, wenn diese Person, dann auch noch kurzfristig ein anderes Lokal aufsuchen muss, weil es ihm/ihr nicht gelingt, dieses zu betreten. Falls ein Restaurant einen barrierefreien Zugang hat, wird häufig die nicht erreichbare Toilette ein Problem. So müssen die betroffenen Menschen oder Angehörige oft mehrere Lokale durchrufen, um schließlich der Barrierefreiheit und einer Reservierung sicher zu sein. Nicht selten finden jene Personen keine passende Lokalität und verbleiben letztendlich zuhause. In jedem Fall gehört Deutschland zu den Ländern, die im Bereich Barrierefreiheit noch großen Aufholbedarf haben. Während man einen behindertengerechten Zugang zu Behörden feststellen kann, sind die meisten Gasthäuser sowohl im Außen- als auch Innenbereich noch nicht barrierefrei (was zum Beispiel den Toilettengang anbelangt).

Ob öffentliche Gebäude barrierefrei sind, können Sie mittels der sogenannten Wheelmap (App) digital einsehen, die bereits vor mehreren Jahren vom Verein Sozialhelden entwickelt wurde. So erspart man sich zumindest den ein oder anderen unnötigen Weg und Frust. 

Der Aufgang zu einem öffentlichen Gebäude ist wohl das klassische Beispiel. Es gibt allerdings noch viele andere, gar nicht so offensichtliche Barrieren, wie der Aufzug am Ende eines Ganges - bis dahin muss man erst kommen, der dann womöglich nur zu bestimmten Etagen und Ausgängen führt. Oder ein Treppenlift in einer inklusiven Schule, an dem steht – „Momentan außer Betrieb“ - hat wohl nur einen Ausstellungscharakter?! Für mich stellen solche Sachverhalte fast eine Provokation dar.

Barrieren gibt es nicht nur für Menschen mit einer körperlichen Behinderung, unzählige lassen sich leider auch für Menschen mit einer Sinnes- oder anderen Behinderungen finden.

Eine ähnliche Vorstellung wie bei der Person, die aufgrund der fehlenden Rampe nicht in das Restaurant eintreten kann, erzeugt in mir der Anblick eines Flyers ohne beispielsweise einen Verweis (QR-Code) zu einer Audiodatei für sehbeeinträchtigte Menschen. Den betreffenden Personen wird damit möglicherweise nicht nur eine wichtige Mitteilung vorenthalten, sondern auch der Besuch einer darin angekündigten Veranstaltung - was wiederum die Partizipation am gesellschaftlichen Leben bedeutet. 

Überlegen wir uns mal, wie viele Texte, zum Beispiel in Internetportalen, Broschüren, Zeitungen, als Audio für sehbeeinträchtige Menschen übersetzt werden. Oder haben Sie schon mal Informationen, wie sie beispielsweise oft in einer Arztpraxis liegen in Blindenschrift gelesen? Damit wird jener Personengruppe eventuell eine existenziell wichtige Inhalte vorenthalten. Glücklicherweise gibt es schon einige Hilfsmittel mittels digitaler Medien, zum Beispiel die Vorlese- oder Lupenfunktion auf Handys, Tablets oder Computern. Abgesehen von der Qualität jener unspezifischen Installationen, stellt sich für mich die Frage - Machen wir es uns damit nicht zu leicht?

Noch ernüchternder scheint die Situation für gehörlose Personen zu sein. Sie können zwar lesen, aber von einer Podiumsdiskussion oder Rede im Fernsehen können sie ohne Dolmetscher*in nur schwer etwas verstehen. Einige können gut vom Mund ablesen, aber ich stelle mir dies äußerst mühsam vor. Auf einer Veranstaltung zum Thema Inklusion hat einst eine gehörlose Person von all den Hindernissen oder besser gesagt „Ver-hindernissen“ in ihrem Alltag erzählt - es war unglaublich zu hören, von wie vielen Angeboten gehörlose Menschen - ja gar nichts mitbekommen, geschweige denn teilnehmen können. Die Veranstaltung selbst konnte wegen der ausbleibenden Kostenübernahme von einem/r Dolmetscher*in nur teilweise übersetzt werden - und das auf einem Event zum Thema Inklusion. Solche Zustände sind aus meiner Sicht inakzeptabel!

Offenbar hat die Gesellschaft noch nicht den Wert oder die Notwendigkeit erkannt, allgemeine Informationen wie auch öffentliche Veranstaltungen für ALLE Personen zugänglich zu machen. Das Wort all-gemein drückt eigentlich aus, dass etwas für alle, als gemeinsames Gut sozusagen, gemeint ist.

Für Menschen mit einer kognitiver Beeinträchtigung mag ein Aushang oder ein Text mit komplexen Formulierungen eine Barriere sein. Dabei könnten diese in einfacher oder leichter Sprache formuliert sein. Nachdem auch in diesem Bereich die Entwicklung zu langsam voranschreitet, gibt es mittlerweile zahlreiche Anbieter im Internet, die mit solchen Übersetzungen ihr (gutes) Geld verdienen. Inklusion wird also wieder zum Kostenfaktor gemacht, anstatt dass es zu einer Selbstverständlichkeit wird und der Staat das benötigte Budget für jegliche Maßnahmen zur Barrierefreiheit aufbringt.

Ich denke, dass vielen nicht behinderten Menschen keineswegs bewusst ist, wie oft wir durch mangelnde Anpassung, die Zugangsmöglichkeiten für Menschen mit einer Behinderung und damit deren Teilhabe am öffentlichen Leben einschränken; aber wenn wir achtsam sind und uns ein wenig in die Situation derer samt ihren Bedürfnissen hineinversetzen, werden wir merken und vielleicht sogar erschrecken, dass wir diese Personengruppe sogar sehr oft in der Gesellschaft ausschließen. Damit verwehren wir uns Gelegenheiten, Räume zur Begegnung mit beeinträchtigten Menschen...

Die Angst vor dem Fremden steht im Gegensatz zum Mut zur Begegnung. Für welches entscheiden wir uns?

 

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