Wenn ich unser Zeitalter, vor allem im gesellschaftlichen und insbesondere schulischen Kontext benennen sollte, dann würde ich dieses als Ära der menschlichen Pathologisierung bezeichnen. Wie ich darauf komme? Wer Kinder im schulpflichtigen Alter hat, weiß unter Umständen meine Gründe...
War es vor ein paar Jahren die Diagnose Legasthenie (Lese-/Rechtschreibstörung) zeigt sich nun ein aktueller Trend hin zu AD(H)S oder Autismus. Jede Person, die etwas „komisch“ oder verhaltensmäßig auffällig erscheint, wird einer Diagnostik unterzogen; was allerdings aufgrund der überfüllten Facharztpraxen eine Weile dauern kann. Erschreckend finde ich die Handhabung bereits im Kindergarten- oder Schulalter. Kinder, Jugendliche, die beispielsweise nicht zwei Stunden am Stück ruhig sitzen können, oder (aufgrund dessen) mal rausrufen, weil sie neben Wortmeldungen von zig anderen Mitschüler*innen ungeduldig werden, werden als hyperaktiv, oder netterweise „verhaltenskreativ“ beschrieben.
Dabei ist es sogar verständlich, dass eine einzige Lehrkraft in einer Klasse mit 30 Grundschüler*innen einen „Zappelphilipp“ oder Störenfried nicht erträgt. Die von der Politik vorgegebenen Rahmenbedingungen stellen sowohl die Lernenden als auch Lehrenden vor große Herausforderungen. Die Kinder und Jugendlichen sollen sich einem System anpassen, das sich besonders in Bayern seit Jahrzehnten nicht weiterentwickelt hat und den Bedürfnissen der Schülerschaft zum Großteil nicht gerecht wird. Wie kann denn auch eine Lehrperson bei einer tatsächlich derart großen Klassen"stärke" auf die einzelnen Schüler*innen eingehen?! Zudem müssen sich diese zunehmend bürokratischen Aufgaben widmen, sodass häufig gar keine Zeit mehr für die Unterrichtsvorbereitung bleibt.
Dies sorgt nicht selten für Frustration UND auch Ablehnung, was das Thema Inklusion betrifft. Unser Schulsystem scheint teilweise noch jene Haltung in Zeiten des Nationalsozialismus aufrechtzuerhalten; indem zu oft noch in form von Frontalunterricht - ein diszipliniertes, unauffälliges Verhalten seitens der Schüler*innen vorzuzeigen hat. Individuelle Fähigkeiten werden nur selten berücksichtigt, sind wohl auch gar nicht gewünscht. Individualisierung wie auch (Binnen-)Differenzierung im Unterricht ist aufgrund der zeitlichen, personellen wie auch räumlichen Kapazitäten nur sehr begrenzt möglich; geschweige denn die Integration (von Inklusion kann man gar nicht sprechen) von Schüler*innen mit erhöhtem Förderbedarf. Sei es eine Behinderung oder ein Migrationshintergrund - selbst Kinder ohne einer diagnostizierten Beeinträchtigung, aber zum Beispiel mit migrationsbedingten Sprachschwierigkeiten landen vermehrt in einem entsprechenden Förderzentrum (man braucht sich folglich wohl nicht über den Mangel an Plätzen in Förderschulen wundern!).
Egal ob an der Regel- oder Förderschule, Eltern oder Erziehungsberechtigte werden immer öfter gezwungen, ihr Kind „umgänglicher“ zu machen, indem sie dieses beispielsweise mittels Medikation (z.B. Ritalin) ruhigstellen. Als Resultat kann man eine zunehmende Pathologisierung feststellen, was auffälliges oder besser gesagt störendes Verhalten einzelner Schüler*innen anbelangt. Welche (negativen) Folgen eine solche auf die Persönlichkeit sowie Entwicklung der Kinder hat, ist meist nebensächlich. Dabei haben es die Schüler*innen oft schon schwer genug, sei es aufgrund einer anderen Erkrankung oder zunehmend schwierigen oder belastenden Familienverhältnissen.
Ein wesentlich harmloseres Beispiel, jedoch mit möglicherweise genauso reichweitenden Konsequenzen, sind Kinder, die einfach langsamer lernen bzw. mehr Zeit brauchen, um sich gewisse Fertigkeiten anzueignen. Die Kulturtechniken wie Lesen, Schreiben, Rechnen stellen eine essenzielle Grundlage für jede weitere „Lernkarriere“ dar. In der Schule werden diese jedoch im Eiltempo durchgenommen, sodass ein/e Schüler*in, die nach der ersten Klasse noch nicht sicher alle Buchstaben lernen und lesen kann, zum/r Schulpsychologen/in geschickt wird – so schnell und kurz lautet auch die Diagnose – LRS. Einem Kind wird dann eine Lese-/Rechtschreibstörung unterstellt - ich drücke dies absichtlich überspitzt aus, wenn es noch nicht den laut Lehrplan erwarteten Lernstand aufweist. Bei unterdurchschnittlichen Leistungen im Rechnen nennt sich dies Dyskalkulie. Es gibt eine positive Sache an der frühzeitigen und zu häufigen Diagnostik, nämlich der dadurch gewonnene Anspruch der Schüler*innen auf einen Notenschutz oder zumindest Nachteilsausgleich. Ich habe zu viele Schüler*innen gesehen, die bereits in der zweiten oder dritten Klasse regelmäßig Tränen in den Augen haben, und zwar jedes Mal, wenn ihnen die Lehrperson eine schlechte Note vorhält. Bei über 20 Leistungsnachweisen im Jahr kommt dies recht oft vor. Ist es nicht unfassbar, welchen Druck wir unserem Nachwuchs in frühen Jahren zumuten? Vor allem der dadurch abnehmende Selbstwert ist besorgniserregend...
Demzufolge kann man sich fragen, was für die Schüler*innen das geringere Übel ist – eine klinische Diagnose oder ein negatives Selbstwertgefühl, womöglich schon in jungen Jahren?
Moralisch sehe ich beides schlichtweg verwerflich. Wir erlauben Kindern und Jugendlichen nicht, sich gemäß ihren individuellen Voraussetzungen zu entwickeln. Jeder hat das Recht auf Bildung und zu Bildung gehört auch die Persönlichkeitsentwicklung. Wollen wir wirklich, dass unsere Kinder alle gleich (gemacht) werden – können wir uns das angesichts der neuen gesellschaftlichen Herausforderungen erlauben?
Unser Schulsystem verkörpert die Annahme, dass wir alle gleich sind oder gleich funktionieren; dass sich jede/r von uns gleichermaßen entwickelt und sich beispielsweise schon im Alter von 7 Jahren über einen ganzen Vormittag hinweg konzentrieren kann. Wir sehen bei dieser ganzen Thematik weder die (nachgewiesenen!) entwicklungspsychologischen Aspekte noch die individuellen Stärken der Kinder. Ein/e Schüler*in, der/die täglich vor Energie nahezu auf seiner/ihrer Schulbank platzt, hat möglicherweise große Talente im sportlichen oder handwerklichen Bereich.
Mit all den schon erwähnten Maßnahmen unterdrücken wir die einzigartigen Fähigkeiten, die eine Person besitzt und als wertvolle Ressource in die Gesellschaft mit einbringen kann oder könnte. Unser Schulsystem gibt unseren Kindern hingegen häufig nicht die Möglichkeit, ihre besonderen Stärken zu entwickeln. Dabei sollte uns schon lange klar sein, dass wir entgegen dem Zeitalter der Industrialisierung keinen Einmachbrei an Arbeiter*innen mehr brauchen, sondern Spezialist*innen, die anhand ihrer Kompetenzen teils außerordentliche Leistungen erbringen könn(t)en (im besten Fall einen positiven Beitrag für unsere Gesellschaft leisten).
Die „Überpathologisierung“ unserer Gesellschaft ist aus meiner Sicht nahezu bedrohlich, besonders in Anbetracht, dass wohl jede/r von uns irgendeine Anomalität aufweist.
Menschen wollen einerseits als möglichst normal gelten, möglichst nicht auffallen. Bevor sie als in irgendeiner Weise sonderbar gesehen werden, lassen sie sich im Zweifelsfall lieber ein fachärztliches Gutachten ausstellen. Dieses wird dann als Art Berechtigungsschein für ein abnormales Verhalten benutzt. Ich bin etwas anders, ja – aber hier, ich habe…! Es fehlt nur noch der schmückende Rahmen um das Dokument.
Ich stelle mir bei all der Thematik die Frage: Pathologisieren wir uns um Hals und Kragen? Sehen wir den Menschen in Zukunft nur mehr in Form von Krankheitsbilden, Syndromen? Werden Charaktermerkmale zukünftig nur mehr als Symptome gedeutet?
Was wird aus unser Spezies Mensch - etwa ein homo pathologens, der sich über mangel- oder besser gesagt krankhafte Merkmale, Diagnosen definiert und dabei selbst solche aufweist?
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