17 Warum sich Mut lohnt

In diesem Blog oder vorangegangenen Beiträgen wurde an mehreren Stellen die Begegnung als Voraussetzung oder sogar Notwendigkeit erwähnt, um die Inklusion insbesondere von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft zu etablieren. 

Nun mag sich der ein oder eine dennoch die Frage stellen, warum es sich wirklich lohnen soll, mit Personen, die uns oft so fremd sind, Kontakt aufzunehmen - ja, diese vielleicht sogar aktiv aufsuchen? Warum sollten wir diesen Aufwand betreiben und uns damit womöglich ins kalte Wasser werfen?

Erklärungen oder auch positive Erfahrungsberichte mögen nicht überzeugend genug sein, vielmehr braucht es die persönliche Erfahrung, also die reale Begegnung eines jeden/r Einzelnen von uns mit Menschen, die eine Behinderung oder andere Besonderheit aufweisen - damit wir erfahren, weshalb es eine solche Erfahrung wert ist. Da man Menschen mit einer Beeinträchtigung nicht so leicht antrifft - dies sei der mangelnden Inklusion geschuldet, ist ein solches Zusammenkommen mit einem erhöhten Aufwand verbunden; möglicherweise müssen Kontakte auf Umwegen geknüpft, Vereine ausfindig gemacht werden. Deswegen braucht es umso stärkere Argumente, um diese Ideen, Projekte tatsächlich umzusetzen und den Mehrwert jener neuen Beziehungen zu erkennen. Ein paar gute Gründe, wofür sich eine solche Anstrengung - aus eigener Erfahrung - mehr als lohnt, möchte ich im Folgenden beschreiben…

Menschen mit einer Beeinträchtigung müssen (womöglich schon von Geburt an) mit schwierigen Situationen umgehen. Sie sind es mehr oder weniger gewohnt, an Hindernisse zu stoßen und diese zu überwinden. Dies kann durch eine körperliche Behinderung und damit einhergehende Operationen, Therapien bedingt sein oder auch durch eine geistige oder seelische Beeinträchtigung, die zum Beispiel die Kommunikation sowie Beziehung mit dem Umfeld maßgeblich erschwert. Menschen mit einer Behinderung lernen, eventuell ambitionierter als andere, an ihren Schwächen (gezwungenermaßen) zu arbeiten oder ihre Schwächen zu kompensieren; dadurch bauen sie ihre Stärken umso mehr aus, entwickeln teilweise extrem ausgeprägte Fähigkeiten. Durch die Bewältigung von Barrieren eignen sich diese Personen Problemlösestrategien an, die der ein oder andere von uns in diesem Maß vielleicht nie nötig hat. Für Menschen mit Behinderung mag es sogar Teil ihres Alltags sein, sich ständig mit Herausforderungen zu befassen.

Daraus entwickeln jene Personen die Fähigkeit zur Resilienz, mit der sie schwierige Lebenslagen durchstehen. Menschen mit einer Behinderung verzagen seltener – im Gegenteil, sie sehen herausfordernde Situationen häufig als Chance, durch deren Umgang zu wachsen.

Durch die wiederholte Konfrontation mit problematischen Situationen werden Menschen mit (oder auch ohne) Behinderung im Laufe ihres Lebens zunehmend „abgehärtet“. Was für manch andere eine große "Challenge" darstellt, nehmen jene Menschen mit Leichtigkeit. Für sie stellt der Umgang mit gewissen Hürden nahezu die Normalität dar. Daher sind (vermeintliche) Probleme für Menschen mit einer Beeinträchtigung am Tagesprogramm und häufig weniger belastend als für andere Personen, die sich mit solchen Situationen zuvor noch nicht auseinandersetzen mussten. Jene können somit eine gewisse Vorbildfunktion haben, sei es die zielstrebige Arbeit an ihren Stärken wie auch die positive Herangehensweise an herausfordernde Lebensumstände.

Damit verbunden besitzen Menschen mit Beeinträchtigung oft einen ausgeprägten, sogar besonders originellen Sinn für Humor. Wenn einen das Leben sehr herausfordert, man womöglich daran nahezu verzweifelt, kann Humor ein gutes, wenn nicht sogar das einzig verbleibende Hilfsmittel sein. Manchmal befinden wir uns in so schweren, vielleicht ausweglosen Situationen, die man mit dem Verstand nicht mehr erklären oder ertragen kann. Eine humorvolle Betrachtungsweise kann dann sehr hilfreich sein, einen Sachverhalt weniger ernst zu nehmen oder einen leichteren Umgang damit zu finden. Beispielsweise müssen sich einige Menschen mit Behinderung verbale Beleidigungen über sich ergehen lassen, die anhaltende Kränkungen auslösen können. Um solche abzuwenden, legen sich betroffene Personen einen Art „Schutzmantel“ um; indem sie beleidigende Äußerungen auf ironische Weise interpretieren, lassen sie diese nicht zu sehr an sich herangehen (was nicht ausschließt, dass solch verletzende Worte dennoch einen Einfluss auf die emotionale Befindlichkeit der betroffenen Person haben).

Eine gewisse Dosis an Humor kann ein gutes, ja, zumindest für die Aufrechterhaltung der psychischen Gesundheit und Widerstandsfähigkeit, ein überlebenswichtiges Mittel sein, um äußerst belastende Lebenssituationen zu überstehen. Menschen mit Behinderung wissen dieses zu nutzen, ein paar legen sogar einen ziemlich schwarzen Humor an den Tag. Sie erweisen sich auch in alltäglichen Situationen als lustige oder besser gesagt leichtlebige Menschen, mit denen man sehr unterhaltsame Konversationen führen kann. Natürlich ist dies nicht immer der Fall und auch sie haben ihre depressive Phasen. 

Dennoch habe ich bei vielen Personen mit einer Behinderung, die ich im Laufe der Zeit kennenlernen durfte, eine grundsätzlich optimistische Einstellung zum Leben festgestellt. Ich denke, dass man ihnen aus diesem Grund manch schwere Lasten nicht ansieht. Dieses positive Charaktermerkmal kann uns zeigen oder lehren, dass wir dem Leben manchmal mit weniger Ernsthaftigkeit und mehr Leichtigkeit begegnen sollten.

Arbeit hat in Deutschland einen hohen Stellenwert - Thema Leistungsgesellschaft. Dabei wird vor allem den kognitiven Fähigkeiten von Menschen eine große Bedeutung zugesprochen. Derartige Kompetenzen können und werden immer häufiger (wie in einem vorherigen Kapitel bereits thematisiert) mittels IQ-Tests bestimmt und evaluiert. Diese geben Aufschluss über gewisse Hirnleistungen, wie Verarbeitungsgeschwindigkeit, wahrnehmungsgebundenes und logisches Denken. Festgestellte Defizite in diesen Bereichen führen mittlerweile sehr schnell zu Diagnosen, Teilleistungsschwächen, auch Behinderungen. Damit werden Menschen mit kognitiven (oft auch körperlichen) Schwächen leichtfertig vom ersten Arbeitsmarkt exkludiert. Ein einziger Zahlenwert, der als Intelligenzquotient bezeichnet wird, definiert also die Leistungsfähigkeit und entscheidet zugleich über die beruflichen Perspektiven.

Damit wird eine Person lediglich anhand ihrer geistigen wie auch physischen Leistungsvermögen charakterisiert, am Arbeitsmarkt dementsprechend mehr oder weniger wertgeschätzt.

Für einen Großteil der Menschen mit Behinderung hat dies weitgreifende Konsequenzen. Sie werden nicht nur als Arbeitskraft degradiert, ihre Möglichkeiten einen Beruf auszuüben, werden stark eingeschränkt. Ihr Wert am ersten Arbeitsmarkt sinkt, weshalb ihnen meist die Beschäftigung in einer Behindertenwerkstätte nahegelegt wird.

Ist es denn ausschließlich der IQ, der uns Menschen auszeichnet? Gibt oder braucht es nicht noch andere Werte - im wahrsten Sinne des Wortes, die vielleicht weniger (objektiv) messbar sind, aber unsere Qualität als Mensch und Arbeitskraft ausmacht?

Im nächsten Blogeintrag möchte ich auf ein weiteres Persönlichkeitsmerkmal und -potenzial eingehen, das vor allem bei Menschen mit einer Behinderung oft sehr ausgeprägt ist. 

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